Ein Gastbeitrag von Ingo Anderbrügge.
Wer kennt es nicht, das Gefühl, nach der Schule den Ranzen in die Ecke zu werfen und sich mit Freunden auf dem Bolzplatz zu treffen, noch bevor man die Hausaufgaben erledigt hat? In meiner Kindheit war das ein tägliches Ritual. Ob Regen, Sonnenschein oder Hagel – wir waren auf dem Fußballplatz zu finden. Nicht nur meine Kumpels und ich, sondern die ganze Nachbarschaft versammelte sich, sobald das tropfende Geräusch zu hören war, das der Ball macht, wenn er auf den Boden titscht.
Stundenlang blieben wir draußen, bis die Sonne unterging und der Hunger uns nach Hause trieb. Das brachte zwar unsere Eltern regelmäßig zur Verzweiflung, doch das war uns ebenso gleichgültig wie der Zustand unserer Kleidung nach der mehrstündigen Schlammschlacht oder das Material, aus welchem der Ball bestand, mit dem wir spielten. Denn wenn kein Fußball zu finden war, dann kickten wir eben mit Dosen oder Zeitungskugeln. Das Einzige, was zählte, war der Spaß am Spiel.
Doch diese Erinnerung, die die meisten Generationen miteinander verbindet, verblasst bei den Jüngeren. Ob man es glaubt oder nicht: Heute wird nicht mehr gebolzt. Straßenfußball ist zur Rarität geworden, und die Kreativität beim Basteln von Bällen hat dramatisch nachgelassen. Sport ist heute etwas, das man höchstens noch im Verein macht. Gestutzter Rasen, Umkleidekabinen und Hallentraining haben Matsch, Tornisterpfosten und aufgeschlagene Knie schon lange ersetzt.
Ich wurde im Januar 1964 in Datteln am Rande des Ruhrgebiets geboren, einem beschaulichen Städtchen mit 35000 Einwohnern im Kreis Recklinghausen. Dort zwischen Zechenhäusern, Zinkwerken und dem Wesel-Datteln-Kanal bolzten meine Freunde und ich in den Hinterhöfen, in denen unsere Nachbarinnen versuchten, die vom Ruß gräulich gefärbten Bettlaken zu trocknen. Es gab weder soziale Medien noch die Playstation oder eine große Anzahl an Vereinen, denen man sich hätte anschließen können, aber dafür immer so etwas wie zwei Pfosten und einen Ball.
Viele mögen sich jetzt fragen, ob es nicht einerlei ist, wo die Kinder zusammen Fußball spielen, und anmerken, dass es natürlich auch seine Vorteile hat, wenn Grasflecken nur noch in den Sportsachen zu finden sind und nicht mehr auf der guten Hose, die bis jetzt noch keinen Flecken hatte. Was aber den Straßenfußball ausmachte, war, dass jeder mitspielen konnte. Man brauchte keine teuren Sportschuhe, keinen Mitgliedsbeitrag im Verein zu zahlen und keine neuen Trikots eines namhaften Sportherstellers aus Herzogenaurach, der bekannt für seine drei Streifen ist. Jeder durfte mitspielen, solange er Spaß hatte und sich voll reinhängte. Derjenige war der Angesehenste, der den besten Schuss hatte oder die beste Grätsche im Matsch auspackte, sodass der Schlamm nur so spritzte und der Gegenspieler nicht mehr wusste, wie ihm geschieht, und nicht derjenige, der die coolsten Klamotten trug oder der mit dem teuersten Auto zum Training gebracht wurde. Es war egal, woher du kamst und wohin du am Abend abgewetzt und müde zurückkehren würdest. Man traf sich draußen, ohne Verabredungen und ohne Angst, nicht aufgestellt zu werden, einfach um zu spielen. So war es jahrelang, tagein, tagaus – einfach, weil wir Bock hatten.
… Wer wissen möchte wie ich auf meine Karriere zurückblicke und warum ich finde, dass uns heutzutage etwas mehr Boldplatzmentalität gut tun würde, ist herzlich eingeladen das Buch „Aufstieg – 16 Ideen für die Zukunft Deutschlands“ zu lesen. Dort habe ich mein gleichnamiges Kapitel „Warum wir alle wieder auf den Bolzplatz sollten“ veröffentlicht: Link zum Buch.