Schalke verliert seine Identifikationsfiguren

Mit Benedikt Höwedes verliert Schalke 04 ein echtes Schalker Urgestein. Dabei ist der Transfer des 29-Jährigen nur der (vorübergehende?) Höhepunkt einer gefährlichen Entwicklung. Denn Schalke verliert seine Identifikationsfiguren.

Benedikt Höwedes

Dass Ungemach drohen könnte, muss Schalkes sportliche Führung spätestens beim Auswärtsspiel in Hannover registriert haben. Schalkes Ultras entrollten in der Gästekurve Banner mit der Aufschrift „Respektvoller Umgang mit einem verdienten Spieler“ und „Bene, einer von uns!“.

Höwedes immer nah an den Fans

Wie sehr der Abschied von Benedikt Höwedes, seit 17 Jahren auf Schalke, den königsblauen Anhang schmerzt, konnte man in den letzten Tagen in den einschlägigen Foren und sozialen Medien erkennen. Und auch die Schalke-News-Leser haben eine klare Meinung: 74 Prozent sind der Meinung, es sei ein Fehler, Höwedes gehen zu lassen. Und 54 Prozent glauben, dass Schalke nicht nur eine Identifikationsfigur verloren hat, sondern auch sportliche Qualität (Stand 30. August, 9.00 Uhr).

Benedikt Höwedes ist von Herzen Schalker, der sich auch mal im Schalker Gästeblock sehen ließ. Wie viel Wertschätzung ihm bei den eigenen Fans zu Teil wurde, konnte man unter anderem auch daran erkennen, dass sich Ultras-Gelsenkirchen-Vorsänger „Kanne“ völlig Ultra-untypisch im offiziellen S04-Trikot mit Gazprom-Logo zeigte, beflockt mit der Nummer 4 – das Trikot von Benedikt Höwedes.

Bild: Susanne Hein-Reipen
Bild: Susanne Hein-Reipen

‚Für mich zählt auch die Leidenschaft, einem bestimmten Team anzugehören‘

Vor allem Höwedes‘ vorzeitige Vertragsverlängerung 2016 bis 2020 – trotz lukrativer Angebote aus dem Ausland – und sein Bekenntnis zum S04 zementierte seinen Status als waschechter Schalker. Wenige Wochen nach seiner Vertragsverlängerung sagte Höwedes: „Es gibt mehr als Titel. In dieser Hinsicht bin ich ein bisschen Fußballromantiker. Für mich zählt auch die Leidenschaft, einem bestimmten Team- und Vereinsgefüge anzugehören. Natürlich geht es auch ums Geld. Aber ich muss auch nicht immer noch mehr und mehr verdienen.“ Worte, die im modernen Fußball selten geworden sind.

Benedikt Höwedes Ultras

Und deshalb darf man dem Schalker Anhang auch kaum übel nehmen, wenn sie den Transfer von Benedikt Höwedes kritisieren und ein Schwinden der Identifikation mit dem Verein im Kader beobachten: Während in den letzten Jahren immer mindestens 12 Absolventen der Knappenschmiede im Profi-Kader standen, sind es in dieser Saison mit Ralf Fährmann, Thilo Kehrer, Weston McKennie, Max Meyer und Fabian Reese nur noch derer fünf.

Weniger Knappenschmiede-Talente im Kader

Nun ist das Vergolden des Tafelsilbers für einen – im europäischen Vergleich – Ausbildungsclub wie Schalke sicherlich ein enorm wichtiges Geschäftsmodell. Mit Julian Draxler und Leroy Sané konnte S04 gutes Geld verdienen. Mit Joel Matip und Sead Kolasinac wechselten aber zwei ehemalige Knappenschmiede-Talente ablösefrei zu europäischen Top-Clubs. Mit Max Meyer, der ein Angebot zur vorzeitigen Vertragsverlängerung ablehnte, sowie Leon Goretzka könnten im Sommer zwei weitere vielversprechende Profis den Verein ablösefrei verlassen. Bei Thilo Kehrer droht 2019 ein ähnliches Szenario. Nicht nur wirtschaftlich wäre das eine Katastrophe, Identifikationsfiguren und so…

Schalkes neuer Aufsichtsrat Uwe Kemmer betonte im Juni, kurz vor seiner Wahl in das Vereinsgremium, dass die Zusammenarbeit mit der Knappenschmiede dringend verbessert werden müsse. Er wolle im Aufsichtsrat für die Bedürfnisse von U19-Trainer Norbert Elgert und Knappenschmiede-Chef Olivert Ruhnert kämpfen. Doch dazu kam es nicht mehr: Ruhnert kündigte wenig später – dem Vernehmen nach relativ entnervt von der Zusammenarbeit mit der Profi-Abteilung. Zwar wird unter Christian Heidel am professionellen Nachwuchszentrum gearbeitet, aber irgendetwas scheint dennoch im Argen zu liegen.

Neben dem Aspekt der immer weniger werdenden Identifikationsfiguren stellen sich zwei weitere Fragen:

1. Haben sich Christian Heidel und Domenico Tedesco verkalkuliert?

Vermutlich war S04-Cheftrainer Domenico Tedesco und Sportvorstand Christian Heidel klar, dass die Absetzung von Benedikt Höwedes als Kapitän Unruhe in den Verein bringen würde. Und legitim ist eine solche Entscheidung, wenn sie als sportliche Verantwortliche dahinter stehen und überzeugt davon sind, dass es der richtige Schritt ist. Vermutlich aber rechnete man nicht damit, dass der Innenverteidiger und Weltmeister als verdienter Schalker und als amtierender Weltmeister dermaßen enttäuscht sein und dann den Verein verlassen würde.

Benedikt Höwedes

 

Und gerade auf Schalke ist der sportliche Aspekt nur ein Teilaspekt. Im emotionalen S04-Umfeld zählen auch andere Werte. Es stellt sich die Frage, ob Schalkes sportliche Führung überhaupt in der Lage ist, abzuschätzen, was es für die Knappen-Fans bedeutet, regelmäßig Identifikationsfiguren wie jetzt Höwedes zu verlieren. Haben Heidel und Tedesco Schalke wirklich verstanden? Wenn Christian Heidel meint, Schalkes Fans hätten gefeiert, wenn er Neymar geholt hätte, dürfen Zweifel zumindest ein stückweit berechtigt sein.

2. Gibt es auf Schalke ein Problem mit fehlender Wertschätzung?

Einen möglichen Abschied von Benedikt Höwedes kommentierte Domenico Tedesco mit den Worten „Grundsätzlich sollte man Reisende nicht aufhalten”. Zwar erwähnte der Chefcoach auch, dass Höwedes „ein wichtiger Spieler” sei, den man gerne halten würde, dennoch bleibt das Gefühl einer dann doch etwas geringen Wertschätzung. Höwedes nun für kolportiert insgesamt 15 Millionen gehen zu lassen, wirft dann Fragen auf, wenn mit Leonardo Bonucci, ebenfalls Innenverteidiger, ebenfalls eine Identifikationsfigur bei seinem Club, aber ein Jahr älter als Höwedes, für 42 Millionen Euro (!) von Juventus Turin zum AC Mailand wechselt.

Benedikt Höwedes2

Dass auf Schalke aktuell nicht nur eitel Freude und Sonnenschein herrschen, musste dieser Tage auch Felix Platte, ebenfalls ehemaliges Knappenschmiede-Talent, erfahren. Der Stürmer wurde für 800.000 Euro nach Darmstadt verkauft. Auf seiner Facebook-Seite schrieb der 20-Jährige: „Leider musste ich die letzten Wochen aber auch die etwas dunkleren Seiten des Fussballgeschäftes kennenlernen, sodass ich sagen muss, dass ich den Verein leider auch mit ein wenig Enttäuschung verlassen werde.“ In den Kommentaren präzisierte der 21-Jährige viel sagend: Immerhin den sportlichen Teil der Entscheidung respektiere er „voll und ganz“ …